Nr. 84903
Folge VI: Die nationalsozialistische Diktatur

Das braune Terrorregime verändert Leben und Arbeit an Lahn und Dill

Am 30. Januar 1933 vereidigte Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler als Reichskanzler und beauftragte ihn mit der Bildung einer Regierung. Damit war der bis dato wichtigste Schritt in die Diktatur, die in die Vernichtung der Juden und in den zweiten Weltkrieg mündete, vollzogen.
Kurz darauf zerschlug die NSDAP sämtliche Errungenschaften der jungen Weimarer Demokratie und ordnete das private, öffentliche, kulturelle und wirtschaftliche Leben konsequent der nationalsozialistischen Herrschaft unter.  Auch an Lahn und Dill mussten sich Unternehmer, Arbeiter und Angestellte auf tiefgreifende Veränderungen einstellen. Regimegegner und Juden gerieten schnell in den fatalen Teufelskreis von Diskriminierung und Verfolgung. 
Unternehmer und Nationalsozialismus
Im von hoher Arbeitslosigkeit gezeichneten Lahn-Dill-Bezirk war die Zahl der NSDAP-Anhänger größer als im Reichsdurchschnitt: Im Kreis Biedenkopf erzielte die NSDAP  1932 bei den Reichstagswahlen 69, 47, im Dillkreis 64,61 und im Kreis Wetzlar 46,55 Prozent. Zulauf erhielten die Nationalsozialisten von allen Bevölkerungsschichten. Untersuchungen zeigen, dass Handwerker, Kleingewebetreibende und kleine Geschäftsleute eine besondere Affinität zum Nationalsozialismus aufwiesen. Unternehmer und Manager waren nicht überproportional unter den Anhängen Hitlers vertreten, zeichneten sich aber auch nicht durch klare Gegnerschaft aus. Mehrheitlich arrangierten sie sich mit den neuen Machthabern – zum eigenen Vorteil und dem des Unternehmens. Der politische Einfluss der NSDAP auf die Geschäftsführung von Buderus z.B. blieb gering, beschränkte sich auf Vorgaben im Rahmen der NS-Wirtschaftsplanung. Die Vorstandsmitglieder pflegten keine engeren Beziehungen zur NSDAP. Sie empfanden die Nazis als „pöbelhaft“, begegneten ihnen, wie es der Historiker W. Rossmann formuliert,  mit „Distanz und Verachtung“.  Der Vorstandsvorsitzende Dr. Adolf Koehler konnte schon deshalb kein NSDAP-Mitglied werden, weil er Freimaurer war. Nach Koehlers Tod 1941 strebte Fritz Gorschlüter die Nachfolge Koehlers an, wurde jedoch vom Sicherheitsdienst der NSDAP als unzuverlässig eingestuft. Statt Gorschlüter erhielt Dr. H. Giesbert den Posten des Vorstandsvorsitzenden. Auch er war kein NSDAP-Mitglied und bezeichnete sich später als Gegner der Nazis. Der Katholik Jean Ley trat erst 1938 auf Druck des Aufsichtsratsvorsitzenden F. Reinhart der NSDAP bei.
Unabhängig von der Einstellung einzelner Entscheidungsträger waren die Unternehmen auf gute Kontakte zur NSDAP angewiesen, wollten sie an öffentliche Aufträge gelangen. Dabei war es vorteilhaft, wenn in der Unternehmensleitung mindestens ein NSDAP-Mitglied saß.  Bei Buderus übernahm diese Funktion der Aufsichtsrat. Seine Zusammensetzung gewährleistete die Nähe zur NSDAP-Führung wie auch zur Wehrmacht. Die Arbeitnehmervertreter K. Weiß und H. Gelsebach waren direkt nach der „Machtergreifung“ durch zwei Vertreter der Deutschen Arbeitsfront (DAF) ersetzt worden. Bis 1938 saßen im Buderus-Aufsichtsrat noch jüdische Mitglieder, so auch als dessen Vorsitzender Dr. Albert Katzenellenbogen von der Commerzbank AG. Er schied 1938 aus und wurde 1942 im Vernichtungslager Maly Trostinec bei Minsk ermordet. Sein Nachfolger als Aufsichtsratsvorsitzender war bereits 1936 Friedrich Reinhart geworden. Neben ihm zogen, u.a. mit Carl Luer und W. Avieny, weitere Regimefreunde in den Aufsichtsrat ein.
Unbestritten schlossen sich viele Unternehmer im Lahn-Dill-Gebiet der NSDAP an – aus Überzeugung oder aus Kalkül. Die Partei erlebte direkt nach der „Machtergreifung“ eine regelrechte Beitrittswelle, sodass die NSDAP, um eine ideologische Verwässerung durch Opportunisten, („Märzgefallene)“ zu verhindern, am 19.4. 1933 eine Aufnahmesperre verhängte. Das Verhalten der Buderus-Vorstände und der Geschäftsführer der Burger Eisenwerke beschreibt die Bandbreite der Anpassung zwischen vorsichtiger Distanzierung und hemmungslosem Opportunismus, in der sich die überwiegende Mehrheit der Unternehmer im Lahn-Dill-Gebiet bewegte. Einige jedoch blieben konsequent ihren demokratischen Idealen treu. So auch Ernst Leitz.  Als Mitbegründer des Liberalen Vereins in Wetzlar hatte er bereits vor dem Ersten Weltkrieg den Antisemitismus bekämpft. 1919 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Demokratischen Partei.  1924 lieferte er sich mit dem späteren NSDAP-Gauleiter Jakob Sprenger einen Schlagabtausch, der ihm die Feindschaft dieses mächtigen Parteifunktionärs einbrachte. Noch im April 1932 bezeichnete er die SA als „braune Affen“, und noch Jahre nach der Machtergreifung  bewies Leitz Mut und Rückgrat: So erwirkte er 1933 die Freilassung des verhafteten Nathan Rosenthal II, lehnte 1938 die Ernennung zum Wehrwirtschaftsführer und die Aufforderung Sprengers, der NSDAP beizutreten, ab und beschäftigte noch lange nach 1933 jüdische Mitarbeiter und bildete jüdische Jugendliche aus. Später brachte er Juden in amerikanischen Leitz-Niederlassungen unter und rettete ihnen damit das Leben, Einen Gegenpol zu Leitz bildete Carl Hensoldt, der bereits 1932 der NSDAP beigetreten war. Er versprach sich von Hitler Vorteile für die M. Hensoldt & Söhne Optische Werke AG, die 1928 kurz vor dem Konkurs stand, als der Zeiss-Konzen in Jena die Kapitalmehrheit erwarb. Auch hoffte er, wieder in den Besitz des früheren Familienunternehmens zu kommen, an dem er nur noch mit 25 Prozent beteiligt war. Dies gelang ihm zwar nicht, doch schaffte er es dank seiner Kontakte zu NS-Dienststellen, den Zeiss-Konzern weitgehend von Entscheidungen auszuschließen. In denunziatorischen Briefwechseln und der Schrift „Der Daseinskampf des Hensoldt-Werkes“ feierte Hensoldt seine Verdienste um den Nationalsozialismus und diffamierte Vertreter des Zeiss-Konzerns als „demokratisch“ und „jüdisch versippt“. Seine Komplizenschaft mit dem NS-Regime trug Früchte: Dank der Rüstungsaufträge konnte Hensoldt den Umsatz des Unternehmens von 1933 bis 1939 vervielfachen. 1936 verdreifachte er sein Jahresgehalt als Vorstandsvorsitzender; 1937 gründete er in Herborn ein eigenes Unternehmen. Allerdings war sein offener Nazismus in der Wetzlarer Unternehmerschaft alles andere als beliebt, und so blieb sein Wunsch, Präsident der Bezirksstelle Wetzlar der IHK für das Rhein-Mainische Wirtschaftsgebiet zu werden, trotz Unterstützung durch NS-Funktionäre unerfüllt. Die Kammer war für das Funktionieren der Kriegswirtschaft zu wichtig, als dass man eine Person ohne Rückhalt an ihre Spitze gestellt hätte. Hier zeigt sich die durchaus vorhandene Rationalität des Regimes: In Wirtschaftsverbänden, Kammern und Behörden saßen größtenteils noch die gleichen Personen wie vor 1933, die dafür sorgten, dass Entscheidungen nicht nur auf der Basis ideologischer, sondern auf rationaler Erwägungen getroffen wurden.
Führerprinzip
Am 1. Mai 1933 erschütterten Aufmärsche ganz Deutschland. In glühenden Reden beschworen die Nazis die neue Zeit – und ihren Worten sollten schnell Taten folgen. Der nunmehr zum „Tag der nationalen Arbeit“ erklärte Tag war Auftakt für tiefgreifende Veränderungen: Am 2. Mai besetzten SA-Trupps die Gewerkschaftshäuser und verkündeten in Kundgebungen ihre Vorhaben.  Ziel sei es, wie der stellvertretende Kreisleiter Haus aus Bieber verlautbaren ließ, „die gewerkschaftlichen Organisationen im Sinne des nationalen Staates zu überwachen“ - doch letzten Endes ging es um deren Vernichtung: Am 10. Mai 1933 wurden die  Gewerkschaften aufgelöst, ihr Vermögen beschlagnahmt und das Streikrecht abgeschafft.  An die Stelle der Gewerkschaften trat die Deutsche Arbeitsfront (DAF), die alle Gewerkschaftsmitglieder und Mitglieder von Arbeiter- und Angestelltenverbänden zwangsintegrierte. Gremien wie der erst seit dem 31. März 1931 bestehende Arbeiterrat der Burger Eisenwerke wurden im Sommer 1933 aufgelöst, das Betriebsrätegesetz vom 4. Februar 1920 am 20. Januar 1934 aufgehoben. An seine Stelle trat das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, welches das „Führerprinzip“ in der Betriebsverfassung festschrieb. Führer des Betriebs war fortan der Geschäftsführer, die Angestellten bildeten die Gefolgschaft. Sie standen im Treueverhältnis zum Betriebsführer, waren dem „Nutzen von Volk und Staat“ verpflichtet. Der Betriebsrat wurde durch einen „Vertrauensrat“ ersetzt. Für größere Wirtschaftsgebiete wurden „Treuhänder der Arbeit“ eingesetzt, die über die Arbeit der Vertrauensräte, die Einhaltung der Betriebsordnung und  Kündigungen entschieden. Vor allem aber setzten sie arbeitsrechtliche Richtlinien fest, was sie zu einem wirkungsvollen Instrument der staatlichen Wirtschaftslenkung machte. Als Vertreter der NSDAP im Betrieb fungierte der Betriebsobmann. Er war, wie es in der Werkszeitschrift der Burger Eisenwerke hieß, „der politische Hoheitsträger des Betriebs (…), die Seele des Kampfes und (…) der schaffenden Menschen an der Stätte ihrer Arbeit.“
Entrechtung und Ermordung der Juden
Die Verfolgung der Juden setzte direkt nach der Machtergreifung ein. Schon zum 1. 4.1933 riefen Nazis zum reichsweiten Judenboykott auf. Vor jüdischen Geschäften postierten sich an diesem Tag SA-Leute, um mit antisemitischen Parolen Kunden vom Besuch der Läden abzuhalten. In Herborn war am Tag zuvor in der örtlichen Zeitung eine Meldung erschienen, in der die Leser aufgefordert wurden, „am kommenden Tag keine jüdischen Geschäfte aufzusuchen.“ Vermutlich fanden auch in Gladenbach, Haiger und Wetzlar antisemitische Aktionen statt. In Gladenbach war es bereits im März 1933 zu Ausschreitungen gegen Juden gekommen. Mehrmals waren Einwohner vor die Häuser jüdischer Familien gezogen, hatten Fensterscheiben eingeworfen und die Bewohner misshandelt. Derartige Aktionen wiederholten sich bis Ende 1935 - unter Duldung der Polizei.
Abgesehen von einigen Einzelhandelsgeschäften gab es im Lahn-Dill-Gebiet kaum jüdisch geführte Unternehmen. Eine Ausnahme bildete  die Aktiengesellschaft Buderus´sche Eisenwerke, in deren Aufsichtsrat bis zum Verbot am 15. Mai 1938 jüdische Mitglieder saßen. Der Aufsichtsratsvorsitzende Dr. Albert Katzenellenbogen wurde bereits 1936 vom regimenahen Commerzbank-Vorstandsvorsitzenden Friedrich Reinhart ersetzt. Aus den Gremien der Industrie- und Handelskammern wurden jüdische Mitglieder direkt nach der Machtergreifung entfernt. In der Regel traten die Mitglieder geschlossen zurück, um Juden oder Regimegegner von der darauffolgenden Wiederwahl auszuschließen. In der Bezirksstelle Wetzlar dankte der Vorsitzende Dr. Koehler dem Getreidehändler Nathan Rosenthal II und dem Fabrikanten Neumann für „verdienstvolle Mitarbeit“. An ihrer Stelle wurden Dr. Carl Hensoldt und Friedrich Ludwig in die Vollversammlung gewählt. Rosenthal wanderte 1937 in die USA aus, wo er 1950 verstarb. Den Höhepunkt der Verfolgungsmaßnahmen markierten die Pogrome  vom 9. und 10. November 1938. In der „Reichskristallnacht“ zerstörte ein fanatisierter Mob jüdische Gotteshäuser, Geschäfte und Wohnungen. Die Synagogen in Braunfels, Ehringshausen, Gladenbach, Herborn, Kröffelbach, Niederweidbach und Wetzlar wurden verwüstet, zehntausende Juden misshandelt und in Konzentrationslager verschleppt. Ab Mitte November 1938 wurde Juden der Betrieb von Einzelhandelsgeschäften und Handwerksbetrieben untersagt. Sie durften nicht mehr als Betriebsführer tätig sein, konnten ohne Abfindung entlassen werden. In Herborn und Haiger mussten jüdische Geschäftsleute ihre Immobilien weit unter Wert verkaufen. Ab Frühjahr 1939 wurde Juden der Besuch von Theatern, Kinos und Museen verboten, ihre Kinder durften keine Schulen mehr besuchen. Jüdische Führerscheine wurden für ungültig erklärt, Spareinlagen beschlagnahmt. Am 30.  April1939 verloren Juden den Mieterschutz. Den Drangsalierungen folgte eine Auswanderungswelle. Bis zum Kriegsausbruch verließ die Hälfte der Anfang 1933 auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen lebenden 70.000 Juden das Land. Auf die Zurückgebliebenen warteten Deportation und Vernichtung. Ihre Heimat an Lahn und Dill hatten viele Juden bereits vor 1938 verlassen. Sie waren in die Anonymität der Großstädte geflüchtet, in denen sie sich sicherer vor Drangsalierungen fühlten. Die letzten noch in Herborn lebenden Juden wurden Juni und August 1942  „nach dem Osten“ deportiert und dort ermordet.
Arbeitsbeschaffungsprogramme
 Die Machtergreifung, heißt es im Geschäftsbericht der Buderus´schen Eisenwerke für 1933, habe „den Wendepunkt für die Wirtschaft gebracht.“ Bis Ende 1933 verringerte sich die Zahl der Beschäftigungslosen von sechs auf vier Millionen. 1936 herrschte wieder Vollbeschäftigung. Dieser Erfolg wird oft auf die Beschäftigungsprogramme zurückgeführt, welche durch zwei Gesetze im Juni und im September 1933 eingeleitet wurden: Diese ermächtigten den Reichsfinanzminister, bis zu 1 Milliarde RM für  Arbeitsförderungsmaßnahmen auszugeben. Um viele Arbeitslose zu beschäftigen, wurde bei Bauprojekten auf Maschinen verzichtet und – betriebswirtschaftlich unsinnig – auf Handarbeit gesetzt. Deutlich wird dies beim Bau der Autobahnen. Vor allem die Bauindustrie erlebte einen Aufschwung, und mit ihr die Eisengießereien des Lahn-Dill-Gebiets. Die Arbeitslosenzahl in Wetzlar, die Ende März 1932 bei 7.146 lag,  sank bis zum 31. März 1933 auf 5.614. Ein Jahr später waren nur noch 1.563 Männer und Frauen arbeitslos gemeldet. Das wichtigste Arbeitsbeschaffungsprojekt im Dillkreis, bei dem 1933 rund 1.000 Arbeitslose beschäftigt wurden, war der Bau der Talsperre bei Driedorf. Bis Ende 1935 gab das NS-Regime über 5 Milliarden RM für Arbeitsbeschaffungsprogramme aus. Sie allein erklären jedoch nicht den schnellen Abbau der Arbeitslosigkeit. Vor allem entfaltete sich 1933 die Wirkung der von den Kabinetten von Papen und Schleicher eingeleiteten Maßnahmen. Die Weltwirtschaft entspannte sich. Auch die wachsende Zahl von Notstandarbeiten, die u.a. auch in Wetzlar stark angestiegen war, die Wiedereinführung der Wehrpflicht und Hitlers Rüstungs- und Autarkiepolitik ließen die Arbeitslosenzahlen sinken. Autarkie war Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie: Ziel war es, die deutsche Wirtschaft unabhängig vom Ausland zu machen. Eine vollständige Autarkie war für das rohstoffarme Deutschland nicht zu erreichen – dennoch gab es Schritte in diese Richtung, die mit Wohlstandsverlusten bezahlt werden mussten, da viele Güter im Inland nicht oder nur mit höheren Kosten hergestellt werden konnten. Ungeachtet dessen setzte das Regime auf inländische Rohstoffgewinnung, forcierte die Eisenförderung, setzte Anreize für die Erschließung neuer Vorkommen. Mit Erfolg: Stillgelegte Gruben nahmen den Betrieb wieder auf. Auch der Erzbergbau an Lahn und Dill erwachte zu neuem Leben. So stieg die Förderung der Buderus-Gruben 1933 auf 60.000 t und konnte bis 1939 auf 448.000 t gesteigert werden. Trotz dieser Steigerungsraten lag der Anteil deutscher Erze bei der inländischen Eisen- und Stahlerzeugung 1936 bei nur 18, 4 Prozent, sodass die Vierjahresplanbehörde auf eine Steigerung der Erzförderung drängte. Unterdessen erhöhten die Buderus‘schen Eisenwerke ihren Grubenfelderbesitz  bis Ende 1938 auf 62 Prozent. Parallel dazu setzte eine Modernisierung der Gewinnungsmethoden, der Maschinen und Aufbereitungsanlagen ein, die einen Rationalisierungsschub mit sich brachte. Ob dieser dem heimischen Bergbau auch unter Marktbedingungen das Überleben gesichert hätte, ist fraglich.      
Aufrüstung und Wirtschaftssteuerung
Die Autarkiebestrebungen waren Teil der Kriegsvorbereitungen, die das NS-Regime seit der Machtergreifung betrieb. Sie gingen einher mit der Wiederbewaffnung, dem Austritt aus dem Völkerbund im Oktober 1933 und der Wiedereinführung der Wehrpflicht 1935. Was als Arbeitsbeschaffungsprogramm fungierte, war nach Werner Plumpe ein „gigantisches, kreditfinanziertes Aufrüstungsprogramm das eine Verlagerung der Produktion auf rüstungsrelevante Bereiche bewirkte.“ Die Einkommen stagnierten, und während die Verbrauchs- und Konsumgüterindustrie kaum wuchsen, boomte die Rüstungsindustrie. Der Weg in den Krieg war vorgezeichnet. Einen organisatorischen Rahmen erhielt er durch die Vierjahrespläne: In einer geheimen Denkschrift zum zweiten „Vierjahresplan“ im August 1936 umriss Hitler seine Forderung, Wirtschaft und Wehrmacht innerhalb von vier Jahren kriegsbereit zu machen; und mit dem Aufbau einer Vierjahresplanbehörde hatten die Eingriffe von Staat und Partei in die Produktion ein neues Stadium erreicht. Die staatliche Steuerung der Preise ließ den Unternehmen der Eisenindustrie nur noch wenige Handlungsspielräume. Und durch die Forderungen, Eisen zugunsten der Stahlproduktion zu sparen, gerieten sie unter massiven Druck, der Ende 1937 bei den Burger Eisenwerken zu so starken Produktionseinschränkungen führte, dass Kurzarbeit und die Entlassung von zehn Prozent der Beschäftigten unabwendbar wurden. 1938 musste die Ofenindustrie ihren Eisenverbrauch noch weiter zurückfahren. Durch die Konstruktion neuer Ofenserien und die Verwendung von Ersatzstoffen gelang es jedoch, Produktionsprogramme zu erhalten und sogar zu erweitern: So nahmen die Burger Eisenwerke 1937 die Produktion von Großküchenanlagen auf, die nach dem Zweiten Weltkrieg große wirtschaftliche Bedeutung für das Unternehmen erlangten. Bei Buderus litt vor allem der Sanitär- und Bauguss unter dem Eisenmangel. Der Tübbingsbetrieb in Essen-Kray musste schließen, und aufgrund der Einsparungsforderungen von Gusseisen musste die Produktion von Öfen und Herden um 30 Prozent gedrosselt werden. Dies war der Erhöhung der Stahlproduktion geschuldet – die für die Rüstungsindustrie von herausragender Bedeutung war. Dies zeigte sich am Wachstum der Stahlwerke Röchling-Buderus AG, deren Beschäftigtenzahl zwischen 1933 und 1939 von 1.500 auf 4.100 angestiegen war.  Auch bei Buderus stieg die Beschäftigtenzahl, der Umsatz vervierfachte sich. Nur die Gewinne stagnierten seit 1936. Während sich Buderus bis Ende der 1920er Jahre in ein Unternehmen der Gießereibranche mit eigener Rohstoffgrundlage gewandelt hatte, ging ab 1937 (vor dem Hintergrund des Vierjahresplans von 1936) die Bedeutung des Gießereisektors zurück, gleichzeitig kam es zu steigenden Verlusten im Rohstoffbereich. Bergwerksdirektor Dr. Witte bezifferte hier die „Zubuße“ allein für 1937 mit einer Million Reichsmark. Hinzu kam ein neues Problem – Arbeitskräftemangel. Er entstand durch die starke Regulierung des Arbeitsmarktes, bei der Gehälter durch den Treuhänder der Arbeit festgesetzt wurden  – was zur Folge hatte, dass der Wettbewerb um Arbeitskräfte nicht mehr über Verdienstmöglichkeiten ausgetragen wurde. So litten Unternehmen 1936, als wieder Vollbeschäftigung herrschte, unter Personalmangel. Um Arbeitnehmer zu binden, weiteten sie soziale Angebote aus. Es entstanden Ausbildungswerkstätten; Betriebsausflüge, Kantinen, Weihnachtsprämien und verbesserte Sanitäranlagen wurden Standard. Für die Burger Eisenwerke erwuchs mit der Produktion von gussemaillierten Waschbrunnen ein neues Geschäftsfeld. Vor allem aber erlebte der Werkswohnungsbau einen Aufschwung. So baute die Neuhoffnungshütte Haas + Sohn 1938 im Bangertfeld im Süden von Sinn acht Doppelhäuser mit 16 Wohnungen und später weitere 29 Häuser mit 96 Wohnungen. Mittel dafür waren vorhanden, garantierten doch die staatlichen Aufträge steigende Umsätze. Um diese zu steigern, stiegen Unternehmen auf Kriegsproduktion um. Doch das Kompetenzwirrwarr zwischen Wehrmacht und staatlichen Stellen und kurzfristige Programmänderungen erschwerten die Planung – vor allem nach Ausbruch des Krieges.    Cyrill Stoletzky
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Folge V: Zu Zeiten der Weimarer Republik (Teil 2)

Rationalisierungsprozesse und Weltwirtschaftskrise

Die existenziellen Krisen der Weimarer Republik brachten der deutschen Wirtschaft nicht nur Nachteile, sondern setzten auch Impulse für Innovationen und Rationalisierungsprozesse. Die Modernisierung von Arbeitsabläufen schließlich ebnete den Weg für die moderne Berufsausbildung: Dies war ein notwendiger wie kontinuierlicher Prozess, der,  zwei Jahre bevor die Handelskammern Dillenburg und Wetzlar 1931 die ersten Facharbeiterprüfungen durchführten, von einem Ereignis erschüttert wurde, das die Welt bewegte: dem als schwarzer Freitag in die Geschichte eingegangenen dramatischen Börsencrash des 24. Oktobers 1929, deren Schockwellen sich von der New Yorker Wall Street auf der ganzen Welt ausbreiteten und auch Deutschland mit aller Härte erfassten.     
Rationalisierungen und Berufsausbildung
Die von der Inflation begünstigten Exporterfolge zwischen 1919 und 1923 täuschten darüber hinweg, dass die deutsche Industrie ihren Produktionsvorsprung aus der Vorkriegszeit weitgehend eingebüßt hatte. Die ausländische Konkurrenz war groß. Die Unternehmen, allen voran die deutsche Eisenindustrie,  mussten mit immer kleineren Gewinnspannen kalkulieren. Nun musste es darum gehen, die Produktionskosten zu senken, und da Lohnkürzungen meist am erbitterten Widerstand der Gewerkschaften scheiterten und sich Preiserhöhungen ohnehin verboten, konnte dies nur durch  Innovationen, Straffung des Fertigungsprogramms und Optimierungsverfahren der Arbeitsabläufe erreicht werden.
Auch bei der Neuhoffnungshütte Haas + Sohn erkannte man dies. Dort hatte der Diplomingenieur Wolfgang Rathscheck, ein Nachkomme des Firmengründers, 1924 ein Konstruktionsbüro errichtet, in dem neue Ofenformen entwickelt wurden – so auch der erste Sturzzugofen, der 1932 auf den Markt kam. Darüber hinaus hatte die Arbeit des Konstruktionsbüros erheblich zur Eliminierung von Zeitverlusten im Arbeitsablauf beigetragen, die sich bislang bei der Konstruktion der Öfen in der Modellwerkstatt ergeben hatten.
Parallel zu dieser Entwicklung hatte sich das vom Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung (REFA) eruierte REFA-System etabliert, das die Kenntnis der einzelnen Arbeitsabläufe verbesserte und eine gerechtere Lohnermittlung ermöglichte. Damit war das „Denken in Zeiten“ auf der Neuhoffnungshütte eingezogen. Rationalisierung positionierte sich als fortwährender Prozess zur Bestgestaltung allen wirtschaftlichen Geschehens. Und gab dem Unternehmen entscheidende Impulse: Die Neuhoffnungshütte modernisierte ihr Putzhaus, deckte weitere betriebliche Schwachstellen auf und organisierte ihren Fertigungsablauf neu. Die Umwandlung des Generalakkords in einen Zeitakkord setzte viele Leistungsreserven frei. Den vorläufigen Endpunkt dieses Rationalisierungsprozesses setzte 1937 die Einführung der Bandfertigung im Ofenbau.
Gleichzeitig wurde die Entwicklung von Heiz- und Kochgeräten auf eine wissenschaftliche Basis gestellt. Dazu richtete die Neuhoffnungshütte 1928/29 ein heiztechnisches Laboratorium ein. Dort konnten nicht nur die Wirkungsgrade exakt ermittelt, sondern alle für die Güte der Geräte relevanten Werte bestimmt werden. 1932 verdrängten Herde aus emailliertem Stahlblech den Gussherd, und die Produktion moderner Großkochgeräte begann.
Auch andere Herd- und Ofenfabriken im Dillkreis modernisierten ihre Anlagen, entwickelten neue Produkte und gingen zur „Fließfertigung“ über. Dabei kopierten sie keine  amerikanischen Vorbilder, sondern entwickelten eigene, auf ihre betrieblichen Besonderheiten zugeschnittene Systeme. Ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg in die arbeitstechnische Moderne war getan.
Doch für die optimierten Arbeitsabläufe und die Bedienung komplexerer Maschinen benötigte man qualifizierte Facharbeiter. Damit rückte auch die Berufsausbildung immer stärker in den Fokus. Die von Gewerbevereinen und Kommunen betriebenen Fortbildungsschulen waren erste Vorformen betrieblicher Ausbildung. Mit der Neuregelung der Berufsschulpflicht 1921 gingen die meisten von ihnen in die Trägerschaft der Kreise über. Es setzte sich nicht nur die Bezeichnung „Berufsschule“ durch, sondern zunehmend auch ein berufsbezogener Fachunterricht. 
Zunehmend ging es darum,  einheitliche überbetriebliche Ausbildungsinhalte zu schaffen. Für diese traten der Deutsche Ausschuss für technisches Schulwesen (DATSCH) und das Deutsche Institut für technische Arbeitsschulung (DINTA) ein, in denen neben Industrieverbänden auch die Handelskammern vertreten waren. Sie grenzten die industriellen Berufe voneinander und gegenüber Handwerksberufen ab und setzten Prüfungsausschüsse bei den Kammern durch. Die Industrie- und Handelskammern Dillenburg und Wetzlar führten seit 1931 Facharbeiterprüfungen durch.  Die Nationalsozialisten führten die Vereinheitlichung des Berufsschulwesens und der betrieblichen Ausbildung konsequent zu Ende, da für die Aufrüstung qualifizierte Facharbeiter benötigt wurden. So wurde die Lehrabschlussprüfung 1936 Pflicht, die flächendeckende Berufsschulpflicht wurde 1938 Gesetz.
 
Weltwirtschaftskrise
Am Donnerstag, den 24. Oktober 1929, der wegen der Zeitverschiebung in Europa als „Schwarzer Freitag“ in die Geschichte eingegangen ist, verzeichnete die New Yorker Börse einen dramatischen, bis dahin nie erlebten Kursrückgang. Die Schockwellen dieses Börsenkrachs breiteten sich schnell in Amerika und der ganzen Welt aus. Neben den USA war Deutschland, wo sich die Krise in einigen Branchen bereits zu Beginn des Jahres abgezeichnet hatte, am schwersten betroffen. Von 1929 bis 1932 sank das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland um ein Viertel; die Industrieproduktion ging sogar um zwei Fünftel zurück.
Vor allem die Eisenindustrie litt unter Absatzstockungen, was sich unmittelbar auf den Eisenerzbergbau auswirkte. Die Hüttenwerke nahmen immer weniger Erz ab, sodass die Halden der Lahn-Dill-Gruben immer größer wurden.   Von den fünf Hochöfen im Lahn-Dill-Gebiet stand 1932 nur noch der Hochofen III der Sophienhütte im Feuer. Da sich, wie der Weilburger Anzeiger am 5. 12. 1930 bemerkt, die „Selbstkosten der Gruben bis zu 70 Prozent aus reinen Lohnkosten zusammensetzten“, schien Lohnsenkung unvermeidbar.  Verhandlungen zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften über Lohnsenkungen im nassauischen Eisenerzbergbau verliefen zunächst ergebnislos. Erst am 27. Januar 1931 wurde unter Vorsitz von Dr. Kollarth ein Schlichterspruch angenommen, der einen Lohnabbau von sieben Prozent vorsah. Gleichzeitig wurde das bisherige Arbeitszeitabkommen verlängert. Doch eine Verbesserung der Lage trat nicht ein. Das starre Lohntarifsystem machte es den Gruben unmöglich, auf Preisvorstellungen der Hütten einzugehen. So wurde es für die wenigen noch verbliebenen Betriebe schwieriger, durchzuhalten.
Auch die anderen Branchen versuchten in der Krise, die Löhne zu senken: Der Arbeitgeberverband für den Lahngau und Oberhessen forderte eine Senkung der Gehälter um 10 und der Löhne um 16 Prozent. Realisiert wurde dann - nach zähen Verhandlungen, der Einschaltung des Schlichtungsausschusses und Nachverhandlungen - eine sechsprozentige Kürzung des Tariflohns und der Akkordpreise. Die Ernst Leitz GmbH und ihr Tochterunternehmen Seibert schlossen sich nicht der Vereinbarung an und verzichteten aufgrund der guten Auftragslage auf Lohnsenkungen.
 
Eine ganze Reihe kleingewerblicher Unternehmen und Grubenbetriebe fielen der Krise zum Opfer, aber zu spektakulären Konkursen wie in anderen Regionen kam es im Lahn-Dill-Gebiet nicht. Allerdings gab es zwei Unternehmensübernahmen, die längerfristige Folgen haben sollten. Ob der Einstieg der Firma Carl Zeiss aus Jena bei der Hensoldt AG 1928 schon dem sich anbahnenden konjunkturellen Einbruch zuzuschreiben ist, bleibt offen. Dagegen war die Übernahme des Hessen-Nassauischen Hüttenvereins durch die Buderus´schen Eisenwerke eine direkte Folge der Weltwirtschaftskrise: Zwar hatten beide Unternehmen durch die Krise gelitten – doch während Buderus nie in seiner Existenz bedroht war, geriet der Hessen-Nassauische Hüttenverein durch anhaltende Umsatzrückgänge und die damit verbundene Verschuldung immer tiefer in die Krise, sodass ihm am Ende keine andere Möglichkeit blieb, als zum 1. Januar 1933 zunächst eine Interessengemeinschaft mit Buderus einzugehen. Dies schien für beide Unternehmen vorteilhaft: Sowohl hinsichtlich ihrer Struktur als auch ihrer Produkte wiesen Buderus und Hüttenverein große Übereinstimmungen auf, sodass die Zusammenlegung der Verwaltungen und Verkaufsorganisation Einsparungen erwarten ließen. Die Bereinigung des beiderseitigen Produktionsprogramms und die Aufteilung der Modelle auf die einzelnen Werke schufen die Voraussetzungen für eine kostengünstige Serienproduktion. Gleichzeitig mit dem Abschluss des Interessengemeinschaftsvertrags schlossen beide Unternehmen einen Freundschaftsvertrag mit den Burger Eisenwerken. Diese beiden Verträge stellten die Eisenindustrie des Lahn-Dill-Gebiets auf eine „neue organisatorische Grundlage. Die Konzentration auf wenige große Unternehmen integrierten diesen Wirtschaftsraum zunehmend in den Wettbewerb mit dem Ruhrgebiet.“  Sie kam einer Fusion, wie sie zum 1.12. 1935 vollzogen wurde, bereits sehr nahe.
1930 stieg die Arbeitslosigkeit in schwindelerregende Höhen. Mitte Mai 1930 wurde in einer Konferenz des  Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes aus dem Lahn-, Dill- und Westerwaldgebiet in Limburg über die Notlage der Bevölkerung dieses Bezirks diskutiert, und in ihrer Abschlusserklärung forderten die Gewerkschafter, die Gebiete Lahn, Dill, Taunus, Westerwald und Oberhessen als außerordentliche Notstandsgebiete anzuerkennen, Notstandsarbeiten zu fördern  und die Krisenunterstützung „in Bezug auf die Dauer zu erweitern und auf alle Berufe auszudehnen“.
Mit Ausnahme der optischen Industrie bauten fast alle Branchen und Unternehmen massiv Stellen ab. Die Burger Eisenwerke GmbH hatte bereits im März 1929 die Schelderhütte stillgelegt und allen 300 Beschäftigten gekündigt; Entlassungen in anderen Werken konnten sie zunächst vermeiden; als sich jedoch Ende 1930 die wirtschaftliche Lage zunehmend verschlechterte, ließen sich weitere Betriebseinschränkungen nicht umgehen. Zwar kam es zu keiner weiteren Betriebsschließung, doch im Januar 1931 erhielten mehr als die Hälfte der Beschäftigten die Kündigung.  Die Neuhütte, die noch bis 1929 gute Beschäftigtenzahlen vorweisen konnte, entließ nach 1930 jedes Jahr die Hälfte der Belegschaft, sodass im März 1933 nur noch 125 Menschen auf der Neuhütte arbeiteten – ein Drittel weniger als 1913. Ähnlich verlief die Entwicklung auf der Eibeshäuserhütte. Nach dem Rekordjahr 1929 mit 636 Beschäftigten reduzierten auch hier drei Entlassungswellen die Belegschaftsstärke bis März 1933 auf 132 Personen – fast 70 Prozent weniger als 1913. Am 15. Januar 1931 waren beim Arbeitsamt Dillenburg 8.156 Arbeitssuchende gezählt. Damit nahm er im Bezirk des Landesarbeitsamts Hessen-Nassau die Spitzenstellung ein. Im Kreis Wetzlar erreichte die Arbeitslosigkeit am 1. April 1932 mit 7.146 Personen ihren Höhepunkt.                                         Cyrill Stoletzky
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Folge III: Erster Weltkrieg erschüttert die Wirtschaft

Der Weltenbrand

Trotz konjunktureller Schwankungen, technologischer Umwälzungen und strukturellen Wandels war Wirtschaft an Lahn und Dill bis 1914 tendenziell gewachsen und hatte der Region einen Wohlstand beschert, an dem in bescheidenem Maße auch die Arbeiterschaft Teil hatte. Diese Entwicklung wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 jäh unterbrochen.
Die Situation war dramatisch: Handwerks- und kleingewerbliche Betriebe mussten nach der Einberufung ihrer Inhaber schließen. Als der Vormarsch im Westen zum Stehen kam und in einen Stellungskrieg überging, wurden Rohstoffe, Energie, Transportkapazitäten, Arbeitskräfte und Lebensmittel immer knapper und unterlagen strengsten Kontigentierungen. Auf Zuteilung konnten nur „kriegswichtige“ Betriebe hoffen. Die gesamte Produktion war den Bedürfnissen der Rüstungsindustrie unterworfen.
Von zentraler Bedeutung für die Kriegswirtschaft war die Eisen- und Stahlerzeugung. Doch die stand gleich zu Kriegsbeginn vor einem großen Problem. Hatten die deutschen Hüttenwerke noch bis zur Mobilmachung ihren Erzbedarf im Ausland gedeckt, war dies nicht mehr möglich, da die spanischen Erze durch die englische Blockade ausblieben und die Importe aus Schweden wegen Devisenmangels zurückgingen. Dafür fanden die inländischen Vorkommen, die wegen ihres zu geringen Eisengehalts als wertlos galten und ungenutzt auf Halde lagen, wieder guten Absatz. Stillgelegte Gruben wurden in Betrieb genommen, einige sogar technisch ausgebaut. Und die Bergbauproduktion an Lahn und Dill erreichte trotz des kriegsbedingten Mangels vieler Hilfsmittel neue Höchstwerte - und übertraf sogar die Rekordergebnisse der frühen 1870er Jahre. Die deutsche Roheisenproduktion verzeichnete dagegen in den beiden ersten Kriegsjahren aufgrund des Kohlemangels einen massiven Rückgang. Erst 1916 trat dank des „Hindenburg-Programms“, das auf eine Fokussierung sämtlicher Ressourcen auf die Produktion von Kriegsgütern zielte, eine kurzzeitige leichte Steigerung ein, die jedoch hinter den Ergebnissen der Vorkriegszeit zurück blieb.
Die kriegsbedingten Einschränkungen trafen die deutsche Eisenindustrie schwer. So kam der Hochofenprozess beim Hessen-Nassauischen Hüttenverein und den Buderus´schen Eisenwerken schon in den ersten Kriegswochen wegen fehlender Transportkapazitäten fast völlig zum Erliegen. Engpässe bei der Koksversorgung zwangen das Oberschelder Hüttenwerk zu Betriebsunterbrechungen, bis im Dezember 1917 Hochofen I ganz ausgeblasen wurde. Darunter litt auch die Stromerzeugung. Immer wieder musste die Überlandzentrale des Hüttenvereins die Stromabgabe einschränken oder sogar einstellen. Die Buderus’schen Eisenwerke befanden sich in einer günstigeren Lage, besaßen sie doch mit der Zeche Massen in Unna eine eigene Kohlen- bzw. Koksgrundlage, sodass ihre Brennstoffversorgung weitgehend gesichert war. Außerdem suchten die Kriegswirtschaftsstellen die Eisen- und Stahlerzeugung aus Effizienzgründen auf die leistungsstärkeren Hütten zu konzentrieren. Hierbei war Buderus schon allein auf Grund seiner Größe im Vorteil. Obwohl auch die Sophienhütte ihre Produktion weitgehend auf militärische Bedürfnisse ausrichtete, blieb Spielraum für technische Innovationen. So entwickelte Buderus 1915 einen Heizkessel mit Ölfeuerung, der für dickflüssige Öle ausgelegt war. Im gleichen Jahr nahm das Unternehmen die Stahlproduktion auf. Auf dem Gelände der Sophienhütte entstand eine Stahlgießerei mit zwei Siemens-Martin-Öfen von je 6 t Fassungsvermögen. Zwei größere Öfen gingen 1917 in Betrieb.
Personalmangel war ein Problem, das die gesamte Wirtschaft traf. Allein Buderus verlor durch Einberufungen rund 3.000 seiner 8.000 Beschäftigten. Bereits bei der Mobilmachung mussten einige Grubenbetriebe vorübergehend schließen, weil ihnen die Arbeitskräfte ausgingen. Die Grube Maria behalf sich zunächst mit 16 jugendlichen Arbeitsfreiwilligen aus der Türkei und setzte später zusätzlich 30 französische Kriegsgefangene ein. Buderus beschäftigte 1916 rund 1.584 französische Kriegsgefangene sowie 545 Frauen. Um die Lebensmittelversorgung ihrer Beschäftigten zu verbessern, gründeten die Buderus’schen Eisenwerke 1915 den „Buderus-Haushalt“, der den Konsumvereinsgedanken auf die Kriegsverhältnisse übertrug.
Umstellung der Produktion
Den Eisengießereien und Maschinenfabriken bereitete die Umstellung ihrer Produktion auf Kriegsgüter wenig Probleme. Die Maschinenfabrik Doering in Sinn goss seit November 1914 im Auftrag der Sieg-Rheinischen Lokomotivfabrik 10-cm-Granaten und drehte schon wenig später selbst Granaten ab. Anfang 1917 verlegte sich das Unternehmen wieder ganz auf die Herstellung von Pumpen, die in den Schützengräben zur Entwässerung und Entschlammung gebraucht wurden. Probleme ergaben sich für die Eisen verarbeitende Industrie weniger auf der Nachfrage- als auf der Produktionsseite. Dies musste auch die Neuhoffnungshütte Haas + Sohn feststellen. Als größter kontinentaler Produzent von Hufeisen verfügte der Betrieb über zahlreiche Aufträge, war jedoch wegen Rohstoff- und Kohlenmangels und fehlender Arbeitskräfte außer Stande, allen nachzukommen. Dass die Ofenproduktion dennoch gesteigert werden konnte, lag daran, dass vor allem tragbare Feldöfen für die Schützengräben hergestellt wurden. Die Burger Eisenwerke produzierten Kessel und Feldöfen für das Heer. Die Schelderhütte lieferte Kochgeschirre, Feldöfen und Grauguss - und drehte seit 1915 auch Stahlgussgranaten ab. Zusätzlich wurden mit der Reichsfuttermittelstelle in Berlin Verträge über die Trocknung von Laubheu, Futterrüben und Bucheckern abgeschlossen. Diese Verträge dokumentieren eindrucksvoll die Zwangslage der Unternehmen. Denn sie zeigen, wie massiv sie zu Umstellungen in der Produktion gezwungen waren, wollten sie überleben. Nicht selten jedoch erwuchsen daraus neue, den Krieg überdauernde Produktionszweige: So war die kriegsbedingte Drosselung der Leimproduktion für die Leimfabrik Ph. Carl Weiss 1916 der entscheidende Impuls zum Bau einer Fettextraktionsanlage. Die entfetteten Rückstände wurden zu organischem Dünger verarbeitet. Nach der Inflationszeit baute Weiss das Kunstdüngergeschäft erfolgreich weiter aus und errichtete ein Lagerhaus mit eigenem Gleisanschluss. Auch die Isabellenhütte Heusler GmbH bewies unternehmerische Flexibilität. Seit 1905 lieferte die Firma seewasserbeständige Resistinbronze und Widerstandsdrähte aus Mangankupfer an die Marinewerften in Kiel-Gaaden und Danzig. Diese Geschäftsbeziehungen wurden mit Kriegsbeginn intensiviert. Kaiserliche wie auch privatwirtschaftliche Werften orderten in großen Mengen Resistinbronze, und als im März 1915 die Rohstoffvorräte zur Herstellung von Elektrolytkupfer zur Neige gingen, begann die Isabellenhütte nach Ersatzlegierungen zu suchen. Mit Erfolg: 1917 erhielt sie Patente auf Verfahren zur Herstellung von Mangan-Aluminium-Kupfer und von Mangankupfer mit geringem Eisenanteil.
Unterschiedliche Ausgangslage
Für die Unternehmen der optischen und feinmechanischen Industrie war die Ausgangslage bei Kriegsausbruch unterschiedlich. Qualifizierte Feinmechaniker und Optiker konnten nicht durch ungelernte Kräfte ersetzt werden. So konzentrierte man die verbliebenen Facharbeiter auf wenige leistungsstarke Betriebe, die ihre Produktion erheblich steigerten, während viele kleine Betriebe geschlossen wurden. Die Hensoldt & Söhne GmbH gehörte schon vor dem Krieg zu den großen Heereslieferanten. Sie konnte deshalb das gewohnte Produktionsprogramm weitgehend beibehalten. Hergestellt wurden Prismengläser, Ziel-Dialyte, Entfernungsmesser und - ab 1915 - militärische Zielfernrohre und Halbscherenfernrohre, 1916 Periskope und Rundblickfernrohre. Dagegen musste W. & H. Seibert die Produktion einstellen und sich mit wenigen Hilfskräften auf Reparaturarbeiten beschränken. Eine finanzielle Krise führte das Unternehmen 1917 zu einer Zusammenarbeit mit Leitz, die dann in eine Übernahme mündete. Die Ernst Leitz GmbH, die sich auf Mikroskopbau spezialisiert und erst 1906 mit dem Fernrohrbau begonnen hatte, musste 1914 ihr Produktprogramm umstellen. Nach Kriegsbeginn fertigte Leitz Zünder, baute eine Abteilung für optische Kriegsinstrumente auf und produzierte neben Fernrohren auch Sehrohre für Schützengräben, Artillerie-Richtkreise, Maschinengewehr-Zielfernrohre und Kameras für Flugzeuge.
Dramatischer Arbeitskräftemangel
Mit zunehmender Kriegsdauer nahm der Arbeitskräftemangel immer dramatischere Formen an. Um diesen wenigstens teilweise zu kompensieren, wurden zunehmend Frauen und Kriegsgefangene in der Produktion eingesetzt und ab 1917 arbeitsschutzrechtliche Schutzvorschriften für Frauen und Jugendliche außer Kraft gesetzt. Die Unternehmen erhielten Sondergenehmigungen zur Einführung von Arbeitszeitverlängerungen und Schichtarbeit. Der Firma Berkenhoff & Drebes bestätigte die Handelskammer Wetzlar, „dass dieselbe mit einem Arbeiter- und Beamtenstand von 720 Mann in ihren Betrieben Asslarerhütte bei Wetzlar und Merkenbach bei Herborn z.Zt. ausschließlich unter Anspannung aller Kräfte in ununterbrochenen Tag- und Nachtbetrieb mit der Ausführung von mittelbaren und unmittelbaren Heereslieferungen beschäftigt ist.“ Ihr Antrag auf Beschäftigung von 13 jugendlichen Arbeitern im Alter von 14 bis 15 Jahren und elf Frauen in elf- bis dreizehnstündigen Nachtschichten wurde daraufhin genehmigt. Ähnliche Ausnahmegenehmigungen erwirkten die Firmen „Bogerts“ Maschinenfabrik in Haiger, eine Eisengießerei und Fabrik, die Frauen mit dem Schruppen von Granaten und dem Eindrehen von Rillen beschäftigte, die Firma Wilhelm Oberding in Sinn, die in Friedenszeiten Pumpen herstellte und nun Granaten abdrehte, und die Maschinenfabrik Roth GmbH in Roth, die Jugendliche unter 16 Jahren in Nachtschichten Granaten bearbeiten ließ. Im Juni 1917 erhielten auch die Burger Eisenwerke GmbH und die Gießerei und Maschinenfabrik Haiger GmbH Ausnahmegenehmigungen. Auch andere Branchen ordneten Überstunden und Nachtarbeit für Jugendliche und Frauen an. Mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrags am 11. November 1918 wurde das Ende des ersten Weltkriegs offiziell besiegelt. Die Wirtschaft im Lahn-Dill-Gebiet stand vor einer neuen, nicht einfachen Aufgabe – der abrupten Umstellung auf „Friedensproduktion“.
Cyrill Stoletzky
 
 
Folge I: Region im Wandel

Auf dem Weg ins Industriezeitalter

Sie waren arm, die Menschen, die um 1815 das heutige Lahn-Dill-Gebiet bewohnten. Und sie bestritten tapfer ihre Existenz.
Der erste Jahresbericht der Handelskammer Dillenburg aus dem Jahr 1865 dokumentiert eindrucksvoll ihre Situation. „Die Bevölkerung“, heißt es,  „befand sich in einer gedrückten Lage, die landwirtschaftlichen Erzeugnisse reichten nicht aus, um die Bedürfnisse zu decken.“ Doch dieser Existenzkampf, dem die kleinen Bauern täglich ausgesetzt waren,  trug bereits den Keim der Veränderung in sich. Denn schon „Anfang der zwanziger Jahre“, heißt es im selben Jahresbericht, „fing der Bergbau an, sich zu beleben, und die Eisenindustrie  gewann (…) an Ausdehnung. Mit dem Aufschwung dieser Industrie hat sich auch der Wohlstand der Bevölkerung gehoben – anfangs langsam, in der letzten Zeit rascher.“
Für den Wirtschaftshistoriker ist klar, wovon in diesem Bericht die Rede ist: Die besondere Energie, die das Lahn-Dill-Gebiet in nur 50 Jahren erfasste und nach vorne trieb - das waren die Anfänge der industriellen Revolution: jene tiefgreifende Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse,  die zur Ausbildung des modernen Industriezeitalters führen sollte. Das heutige Lahn-Dill-Gebiet, seinerzeit noch zum Herzogtum Nassau, zu Preußen und zum Großherzogtum Hessen zählend, nimmt in dieser Entwicklung eine Sonderstellung ein. Zwar vollzog sich der Wandel in diesen eisenerzreichen Landschaften an Dill, Oberer und Mittlerer Lahn nicht so rasant wie in anderen Gebieten Deutschlands. Gleichwohl war er vorhanden und prägte auch diese Region. Und gerade an ihrer Entwicklung zeigt sich, wie entscheidend veränderte Rahmenbedingungen für den Wirtschaftsfortschritt waren – auf allen Ebenen. Jede Veränderung benötigt Impulsgeber. Worin genau lagen im „hessischen Eisenland“ die Triebkräfte der Industrialisierung? 
Drei entscheidende Veränderungen verdanken sich den Napoleonischen Kriegen. So wurde bis 1813 die Bauernbefreiung vollzogen. Der Landwirt konnte somit seinen Arbeitsplatz frei wählen und genoss persönliche Freiheit. Und dank der sich nach und nach durchsetzenden Gewerbefreiheit bedurfte es für die Ausübung eines Handwerks nur noch eines Gewerbescheins. Wer ihn besaß, konnte sich überall im Land niederlassen und seine Produkte verkaufen. Der Abschied von den alten Zunftverfassungen vollzog sich unterschiedlich rasch: Während das Großherzogtum Nassau diese bereits 1819 aufhob, blieb sie in Preußen bis zur Preußischen Gewerbeordnung vom 17.1.1845 in Kraft. Das Großherzogtum Hessen hielt an der Zunftverfassung bis zum 18.2. 1866  fest, weichte diese aber durch  Ausnahmeregelungen auf, die den Einfluss der Zünfte so schwächten, dass sich viele von selbst auflösten. 1863 standen 16.774 freie Gewerbetreibende nur 4.226 zünftigen Handwerkern gegenüber. Ein weiterer Schritt auf dem Weg zu wirtschaftlicher Autonomie war damit getan, doch die vielen Zollgrenzen, denen das aus Kleinstaaten bestehende Deutschland ausgesetzt war, erwiesen sich noch als Hemmnis. Genau diese wurden sukzessive abgeschafft. Mit der Gründung des Deutschen Zollvereins zum 1. 1. 1834 entstand – als vorläufiger Höhepunkt der Entwicklung - ein einheitlicher Wirtschaftsraum, dem zunächst Preußen und das Großherzogtum Hessen, 1836 auch das Herzogtum Nassau beitraten, sodass der Bezirk der heutigen IHK Lahn-Dill zollpolitisch vereinigt war. Doch wie war es um die Menschen bestellt, die den Wandel begleiteten und  letztlich umsetzten? Sie waren Arbeiter und Landwirte zugleich. Die Mehrheit der Bevölkerung lebte zwar von der Landwirtschaft, ein großer Teil jedoch arbeitete nebenbei in Erzgruben-, Hütten und Hammerwerken. „Der Arbeiter unserer Gegend“, schreibt der Historiker Hugo Bangert, „ist kein eigentlicher Industriearbeiter. Verteilt in den einzelnen Dörfern wohnend, ist er im Besitz eines Hauses mit Land und Viehhaltung. Seine freie Zeit nutzt er zur Bestellung des Ackers, der ihm neben dem gewerblichen Arbeitsverdienst eine bessere Lebenshaltung ermöglicht. Ein solcher bodenständiger Arbeiterstamm bildet für die Lahn-Dill-Industrie eine Voraussetzung für ihre gedeihliche Entwicklung.“  Der Arbeiter an Lahn und Dill sah sich nicht als klassischer Proletarier – ein Grund, warum die sozialdemokratischen Gewerkschaften dort schwerer Fuß fassten als beispielsweise im Ruhrgebiet.    
Doch günstige gesetzliche Rahmenbedingungen und gute mentale Voraussetzungen der fleißigen Bevölkerung allein setzten die Industrialisierung noch nicht in Gang. Noch fehlten weitere wichtige Impulse zum Aufbau einer modernen kommunalen und verkehrstechnischen Infrastruktur. Doch auch das sollte sich bald ändern. Zwischen 1863 und 1865 wurden in Dillenburg, Wetzlar und Herborn Gaswerke errichtet. Das vorhandene Telegrafennetz wurde modernisiert, viele Telegrafenbüros aus Außenbezirken in Stadtzentren verlegt. Auch die für das abseits der großen Verkehrsströme gelegene Lahn-Dillgebiet notwendige Verkehrserschließung wurde vorangetrieben. Und da es für die Bergbauregion Lahn Dill vor allem um die Abfuhr der Erze ging, bedeutete dies zunächst den Ausbau der Lahn zum Schifffahrtsweg. In vielen Teilschritten wurde durch Schleusenbau, Fahrrinnenvertiefung und weitere Maßnahmen die Lahn so ausgebaut, dass an entscheidenden Standorten und Knotenpunkten der Transport der Erze von den Gruben verbessert werden konnte. Doch die Blütezeit der Lahnschifffahrt währte nur kurz: Obwohl sich zwischen 1846 und 1849 der Güterverkehr verdoppelt hatte, mehrten sich ab 1850 Stimmen, die nach der Eisenbahn riefen. Und damit nach und nach ein neues Zeitalter auch an Lahn und Dill einläuteten.
Schon einige Jahre nach Gründung des ersten „Zentral-Bahnkomitees“ 1858 wurde der erste Teilabschnitt von Oberlahnstein nach Bad Ems dem Güterbahnverkehr übergeben. Am 5. Juli 1862  erreichte die Lahntalbahn Limburg, am 14. Oktober Weilburg und am 10. Januar 1862 Wetzlar. Und mit der Eröffnung der Deutz-Gießener Eisenbahn war das Eisenbahnzeitalter endgültig angekommen an der Lahn, und das war ein Segen für die Region: Der Eisensteinbergbau in den von der Bahn berührten Revieren Siegen, Dillenburg und Wetzlar, stellte das Oberbergamt Bonn 1865 fest, hatte einen enormen Aufschwung genommen. Dies bestätigte die Handelskammer Dillenburg zwei Jahre später. „Die Verbindung unserer Gegend mit dem Weltverkehr“, hieß es, war von „mächtiger Einwirkung auf die industrielle Thätigkeit und das Wachsen des Wohlstands“. Ein Grund, warum die Bahnverbindungen durch Stich- und Nebenbahnen wie die Diethölztalbahn, die Biebertalbahn und die am 16. Juni 1894 eröffnete Ernsttalbahn ausgebaut wurden, um die lokalen Erz- und Hüttenwerke transporttechnisch noch besser anzubinden.
War sie also da, die industrielle Revolution an der Lahn? Ja und nein.
Zweifellos war der strukturelle Wandel vorhanden, verlief aber nicht so revolutionär wie in anderen Städten. Das zeigt auch die Bevölkerungsdichte, die in Wetzlar, Biedenkopf und Dillenburg zwischen 1867 und 1910 um 37 Prozent stieg, aber unter dem Durchschnitt des heutigen Hessen lag, dessen Bevölkerung in derselben Zeit um 61, 2 Prozent gewachsen war. 1875 lebten immer noch 57, 3 Prozent aller Erwerbstätigen von der Landwirtschaft, ihnen standen 42, 7 Prozent Handwerker und Industriearbeiter gegenüber. Wetzlar industrialisierte sich am schnellsten:  Dort sank der Beschäftigtenanteil der Landwirtschaft 1882 unter die 50-Prozent-Marke. Allerdings blieben Verbrauchgüterindustrie, Großhandel, Maschinenbau und später chemische und elektrotechnische Industrie bis ins 20. Jahrhundert unterrepräsentiert. Bergbau und Eisenindustrie dominierten und festigten den Ruf dieser jungen Wirtschaftsregion als eines der wichtigsten Erzreviere Deutschlands.
> Cyrill Stoletzky

Zur Geschichte der IHK an Lahn und Dill

IHK Lahn-Dill: 1865 bis heute

Die Handelskammer zu Dillenburg

Gegründet wurde die Handelskammer zu Dillenburg durch Verordnung am 4. März 1864. Nach den im Herbst 1864 durchgeführten Wahlen trafen sich zehn gewählte Mitglieder am 23. Januar 1865 zur konstituierenden Sitzung. Der Hüttenbesitzer J.C. Grün wurde zum ersten Vorsitzenden gewählt.

Die Handelskammer Wetzlar

Schwieriger gestaltete sich die Handelskammergründung in Wetzlar. Hindernis war die besondere verwaltungspolitische Situation, in der sich Stadt und Kreis Wetzlar befanden. Erst nachdem sich die Wetzlarer Unternehmen zu außergewöhnlich großen finanziellen Opfern verpflichtet hatten, wurde eingelenkt. Am 4. Oktober 1900 fanden die Wahlen zur Handelskammer Wetzlar statt, am 12. Oktober kamen zwölf gewählte Mitglieder zur konstituierenden Sitzung zusammen. Zum Vorsitzenden wurde Eduard Kaiser, Generaldirektor der Buderus’schen Eisenwerke, gewählt.

Getrennte Wege

Zunächst schlossen sich Dillenburg, Wetzlar und weitere kleine Handelskammern, die seit 1. April 1924 in Preußen offiziell Industrie- und Handelskammern (IHK) hießen, zur „Interessengemeinschaft kleinerer und mittlerer Handelskammern“ zusammen. Doch der Zusammenhalt währte nicht lange: Um einer drohenden Zwangsfusion zu entgehen, schloss sich die IHK Wetzlar, die wirtschaftlich zum Rhein-Main-Gebiet tendierte, mit Wirkung vom 1. Januar 1931 der IHK Frankfurt a.M.-Hanau an. Die IHK Dillenburg fusionierte mit den Kammern Siegen und Olpe zur IHK Siegen-Olpe-Dillenburg.

Neubeginn und freie Wahlen

Unmittelbar nach der Besetzung Dillenburgs und Wetzlars am 28. und 29. März 1945 und damit vor der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 7. Mai formierten sich die Industrie- und Handelskammern Dillenburg und Wetzlar in ihren alten Kammergrenzen neu. Die jeweiligen Präsidenten wurden zunächst von der amerikanischen Militärregierung eingesetzt. Erst im April 1947 fanden wieder freie Kammerwahlen statt.
Das Bundesgesetzblatt über die vorläufige Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern vom 18. Dezember 1956 machte sie wieder zur Körperschaft des öffentlichen Rechts.

Fusion zur Industrie- und Handelskammer Lahn-Dill

Um eine effizientere Arbeit im Interesse ihrer Mitglieder zu erreichen, suchten die hessischen Industrie- und Handelskammern jenseits eines Zusammenschlusses nach neuen Formen der Kooperation. Als Folge davon kam es zu einer stärkeren Aufgabenverteilung und zu einer Konzentration von Arbeitsfeldern bei einzelnen Industrie- und Handelskammern. Besonders eng entwickelte sich die Zusammenarbeit zwischen Dillenburg und Wetzlar. Seit 1997 gab es ein gemeinsames Mitteilungsblatt und seit Januar 1998 teilten sich beide Kammern einen gemeinsamen Hauptgeschäftsführer, gefolgt von der Zusammenlegung weiterer Abteilungen. Die positiven Erfahrungen mit dieser „Konföderation“ bewogen beide Kammern, sich zum 1. Januar 2008 zur „Industrie- und Handelskammern Lahn-Dill“ mit einem Doppelsitz in Dillenburg und Wetzlar zusammenzuschließen.